Alternative Audiodeskription Rolle der Programmmusik in der intersemiotischen Übersetzung Schlüsselwörter:

Alternative Audiodeskription, Programmmusik, intersemiotsiche Übersetzung, Standrads der Audiodeskription

By inTRAlinea Webmaster

Abstract

English:

This article presents the concept of alternative audiodescription, of which musical ekphrasis is a central category. The concept is based on the idea that selected elements of film drama, which escape verbal description due to limited time and space in audiodescription, could be translated into a piece of music. As in the case of ekphrasis set in the literary tradition, in the case of musical ekphrasis too, what is important is not mimetic accuracy and the reproduction of content, but the aesthetic tension that accompanies the reception of the work. Understood in this way, musical ekphrasis is meant to be an impression on selected elements of the language of the film, while audiodescription itself is defined as an approximation - one of many possible attempts to get closer to the original.

Following the theoretical introduction, the article discusses the results of a survey that summarises the 'Spaces of Audiodescription' project carried out between 2021 and 2023 at Adam Mickiewicz University in Poznań. As part of the project, an audiodescription and a musical ekphrasis were created for a film from the resources of the Centre for Blind Children in Owińska ('Spatial Orietation Park and our centre from a bird's eye view'), which provides a musical illustration for the bird's eye view.  After the presentation of the audiodescription film and the musical piece, a survey was conducted among the Centre's students on the reception of the ekphrasis. The results of this survey are presented in the final chapter of the article.

German:

[abstract in German needed]

Keywords: Audiodeskription, musikalische Ekphrasis, Filmsprache, Hermeneutik, audio description, alternative AD, musical ekphrasis, film language, hermeneutics

©inTRAlinea & inTRAlinea Webmaster (2025).
"Alternative Audiodeskription Rolle der Programmmusik in der intersemiotischen Übersetzung Schlüsselwörter: Alternative Audiodeskription, Programmmusik, intersemiotsiche Übersetzung, Standrads der Audiodeskription"
inTRAlinea Special Issue: Media Accessibility for Deaf and Blind Audiences
Edited by: Carlo Eugeni & María J. Valero Gisbert
This article can be freely reproduced under Creative Commons License.
Stable URL: https://www.intralinea.org/specials/article/2674

1. Einführung

Bei der Erstellung der Audiodeskription wird der Beschreiber vor eine besondere Aufgabe gestellt: Einerseits soll er in sein Manuskript so viele der vorhandenen visuellen Informationen wie möglich aufnehmen, damit der blinde oder sehbehinderte Rezipient das künstlerische Schaffen, sei es beispielsweise der Hörfilm oder das Hörmuseum, umfassend erleben und genießen kann. Andererseits aber können aus der Fülle der durch das Bild vermittelten Informationen im Hinblick auf Raum- und Zeitfaktor meist nicht alle berücksichtigt werden. Dieses besondere Spannungsverhältnis, das von Bernd Benecke als „Audiodeskriptionsdilemma“ (Benecke 2014: 2) bezeichnet wird, ist keineswegs neu und wurde bereits im Diskurs um die Theorie und Praxis der Audiodeskription aus vielen Perspektiven diskutiert. Das lässt den Schluss ableiten, dass die Audiodeskription in gewissem Sinne oft in Kategorien einer Verlustbilanz betrachtet wird. Der vorliegende  Beitrag nimmt sich nun vor, der Frage nachzugehen, auf welche Art und Weise diese potentiellen Verluste auszugleichen wären. Das besondere Augenmerk gilt dabei der so genannten alternativen Audiodeskription. Nach der Begriffsbestimmung und nach der Einbettung der Audiodeskription in die Kategorien der intermedialen Transkriptionen im Sinne von Ludwig Jäger wird die Optik der Erwägungen auf  die Problematik der musikalischen Ekphrasis verschoben. Annäherung an die fokussierte Thematik bietet das im Rahmen des Beitrags dargestellte Projekt „Erfahrungsräume der Audiodeskription“, das  in den Jahren 2021-2023 im Institut für Germanische Philologie der Adam-Mickiewicz-Universität Posen durchgeführt wurde.

2. Zum Begriff der alternativen Audiodeskription

Im Laufe der Entwicklungsgeschichte der Audiodeskription werden neue Varianten geboten, die als eine Alternative zur konventionellen, hergebrachten Formen zu verstehen sind und mit deren Hilfe man danach strebt, die erwähnte Verlustbilanz aufzuheben.  

Kennzeichnend für die weltweite Professionalisierung des Audiodeskriptionsverfahrens im 21. Jahrhundert war das Veröffentlichen von Regelwerken für die Praxis. Diese legten großen Wert auf den Grundsatz der Objektivität. Wie Marina Ramos Caro und Ana María Rojo López konstatierten, wurde die Suche nach der Objektivität „nicht nur ein Desideratum“(Ramos Caro und Rojo López 2014: 133), sondern eher „eine der goldenen Regeln“(Ramos Caro und Rojo López 2014: 134) in der professionellen AD-Praxis. Dennoch stößt die Forderung nach der Objektivität und nach der starren Standardisierung der Audiodeskription in den letzten Jahren immer häufiger auf Kritik (vgl. u.a. Schaeffer-Lacroix, Reviers und Di Giovanni 2023). Im Anschluss daran werden in den unten angestellten Überlegungen als alternativ alle Varianten der Audiodeskription verstanden, die sich bewusst in eine Diskussion mit den hergebrachten, konventionellen Formen der Audiodeskription einlassen und eine eigene Konzeption vorlegen, die eine Antwort auf die aus dieser Diskussion resultierenden Unzulänglichkeiten versucht.

Als Sammelbegriff für unterschiedliche Varianten der Audiodeskription, die sich als alternativ zur konventionellen Beschreibungen verstehen, verwenden Agnieszka Chmiel und Iwona Mazur die Bezeichnungen alternative Audiodeskriptionen (alternatywne audiodeskrypcje) (Chmiel und Mazur 2014:58) sowie alternative Gattung bzw. Subgattung der AD (alternatywny gatunek lub podgatunek AD) (Chmiel und Mazur 2014:59). Agnieszka Szarkowska und Izabela Künstler sprechen dagegen in diesem Kontext von der experimentellen Audiodeskription (audiodeskrypcja eksperymentalna) (Szarkowska und Künstler 2012:91).

Wie bereits erwähnt, bilden die oben angeführten Bezeichnungen Oberbegriffe für verschiedene abgewandelte Formen der Audiodeskription. In die Diskussion um die Audiodeskriptionstheorie- und Praxis wurden jedoch auch viele Termini eingeführt, die sich jeweils direkt auf eine konkrete Konzeption beziehen. Bei einem etwas genaueren Einblick in die vorliegenden Entwürfe der alternativen Formen der Audiodeskription wird man schnell zum Schluss kommen, dass es unter ihnen zahlreiche Überschneidungen gibt. Doch es lässt sich alle alternativen Audiodeskriptionsansätze  je nach der einen oder anderen dominierenden Leitidee der Übersichtlichkeit der Ausführungen halber gruppieren, ohne feste Trennungslinien zwischen den einzelnen Kategorien den alternativen Audiodeskription zu ziehen.  Es geht über den Rahmen des vorliegenden Beitrags weit hinaus, einen umfassenden Überblick über alle Konzeptionen der alternativen Audiodeskription zu bieten, deshalb wird an dieser Stelle ausschließlich die Vielfalt der entwickelten Ansätze angedeutet. In grober Vereinfachung kann man die alternativen Formen der Audiodeskription in folgende Ansätze einteilen: narratologische Ansätze (u.a. Fels/Udo 2006; Kruger 2010; Ramos Caro 2016), filmästhetische Ansätze (Künstler/Butkiewicz/Więckowski 2012; Fryer/ Freeman 2012; Szarkowska 2013; Wilken/Kruger 2016; Bardini 2020), sprachexpressive Ansätze (Zabrocka 2017; Walczak/Fryer 2017; Chica 2019), integrative Ansätze (Romero-Fresco 2019; Naraine/ Fels/ Whitfield  2018; Fryer 2018) sowie technologische Ansätze (Lopez/Kearney/Hofstädter 2021; Pantula/ Kuppusamy 2019).

3. Medienimmanenz und transkriptive Intelligenz

Im kommunikativen Kontext stehen die visuellen Inhalte selten allein, sie kommen zumeist mit anderen Zeichensystemen verknüpft vor. Selbst so scheinbar typisch reine Bildgebrauchsdomänen wie zum Beispiel die Gemäldegalerie verwenden  in anderen Zeichensystemen kodierten Erklärungen oder Hinweise, beispielsweise  Bildlegenden oder Künstlerbiografien. Dasselbe geschieht auf dem Gebiet anderer semiotischer Systeme. Partituren werden von Künstlern interpretiert und in tönende Musik überführt, komplexe Sprachtexte werden mit Kommentaren versehen, literarische Stoffe werden einer filmischen Adaptation unterzogen. Auf „diesen Zustand der inhärenten quasi unvermeidbaren und zwingenden Multimodalität“ (Stöckl 2011: 46) weist verstärkt Ludwig Jäger hin (Jäger 2002), der  von der so genannten „Medienimmanenz“ (Jäger 2002:35) ausgeht. Die Medienimmanenz besagt, dass die Welt immer nur dadurch zugänglich wird, dass man sie sich durch kommunikative Entäußerung erst aneignet. Der dazu notwendige Zeichen- und Mediengebrauch beschränkt sich aber in der Auffassung von Jäger nicht auf ein Symbolsystem oder ein Medium, sondern ist essentiell von Transkriptionen gekennzeichnet. Bedeutungen werden ständig von einem Zeichensystem in ein anderes überführt, was offensichtlich in der Beschränktheit einer einzelnen semiotischen Ressource begründet ist. In der Auffassung von Jäger ergeben unsere Umwelt und unsere sozialen Praktiken offenbar nur dann einen Sinn, wenn man in einer Zeichenmodalität kodierte Inhalte in einer anderen kommentiert, expliziert und paraphrasiert. Nach Jäger wird die Welt erst durch intra- und intermediale Transkriptionen lesbar und in dieser Notwendigkeit sieht er das Grundprinzip kultureller Semantik. Die Fähigkeit zu derartiger Transkription bezeichnet er als „transkriptive Intelligenz“ (Jäger 2002: 35). Wie im Folgenden gezeigt wird, eröffnet sich gerade im spezifischen Feld der transkriptiven  Intelligenz ein weites Forschungsgeld für die Weiterentwicklung der alternativen Audiodeskription.

4. Musikekphrasis in der Audiodeskription

Die intra- und intermediale Transkriptionen im Sinne von Jäher haben in der Programmmusik eine sehr lange Tradition. So vermag dieses Kapitel das aufzuzeigen, was für den vorliegenden Beitrag eine zentrale Fragestellung bedeutet: das Potenzial der Musik für das Übersetzen der visuellen Inhalte.

4.1  Programmmusik

Die Programmmusik zählt zu einer der umstrittensten musikalischen Gattungen. Wie Constantin Floros feststellt (Floros 1983: 10), fehlt es nicht nur „an einer allgemein akzeptierten Definition, sondern es lässt sich auch oft zwischen den konträren Auffassungen gar nicht vermitteln“. Man gebraucht den Begriff in verschiedenen Sinnvarianten, und die Kriterien für die Begriffsbestimmung sind dabei jeweils unterschiedlich. Da eine ausführliche Diskussion rund um die Begriffsauslegung der Programmmusik weit über den Rahmen des vorliegenden Aufsatzes hinausgeht, wird die vereinfachte Definition von Kurt Westphal (1965) angeführt. Als „Programmmusik“ definiert Westphal (Westphal 1965: 3) Musik, „die zu anderen Gegenstandsbereichen und Künsten in Beziehung tritt. Sie ist nicht eigenständige, sondern kommentierende, nicht aussagende, sondern erzählende und malende Musik“. Die Definierung der Programmmusik erfolgt oft durch die Abgrenzung von der absoluten Musik. Während absolute Musik eine Gattung ist, „die frei ist von außermusikalischen Bindungen, losgelöst von den Realitäten der Erscheinungs- und Erfahrungswelt“, stellt Programmmusik „selbstständige Instrumentalmusik mit einem ausdrücklich benannten außermusikalischen Bezug“ (Lang 2014: 8) dar.

Innerhalb der Programmmusik unterscheidet man drei Formen:

  1. die abbildende
  2. die erzählende
  3. und die versinnbildlichende Musik.

Die abbildende Musik, auch als Tonmalerei bezeichnet, spiegelt die Eindrücke der Außenwelt mit den Mitteln des Klanges wider, zum Beispiel den Flug des Schmetterlings oder das Heulen des Sturms. Die erzählende Programmmusik greift in die Sphäre der Dichtung über. So wie ein Roman stellt sie eine Handlung, einen Vorgang, ein Ereignis dar, wobei diese Handlung sowohl äußerer als auch psychologisch innerer Art sein kann. Solche Musikstücke sind gleichsam „Klangfilme, Filme ohne Bilder“ (Westphal 1965:8), wie zum Beispiel die „Biblischen Historien“ von Bachs Leipziger Amtsvorgänger Johann Kuhnau oder die Mehrheit aller Programmsymphonien und symphonischen Dichtungen auf der Linie Berlioz-Liszt-Strauss (vgl. Westphal 1965: 8).  Mit der versinnbildlichenden Musik ist die symbolische Dimension der Musik gemeint – z.B. die Sechsstimmigkeit des Sanctus in der H-moll-Messe. Westphal konstatiert (Westphal 1965: 34):

Der abbildende Programmmusiker rivalisiert mit dem Maler, der erzählende Programmmusiker mit dem Dichter. Der Tonmaler fängt ein Bild in Tönen, Rhythmen und Klängen auf, mag es ein optisches oder schon von Natur aus ein akustisches sein. Der Tondichter will Vorgänge schildern, Geschehnisse über das Ohr vor Augen führen. Die Übergänge sind fließend.

4.2 Musikekphrasis und Bedeutungspotenzial des Films

Es darf nicht übersehen werden, dass alle Kategorien der Programmmusik zwar immer einen ausdrücklich benannten außermusikalischen Bezug haben, jedoch eine selbständige Instrumentalmusik bilden. Diesen Aspekt hebt auch Siglind Bruhn (Bruhn 2000) in ihren Erwägungen hervor und führt in den Diskurs um die Programmmusik die Kategorie der „Musikekphrasis“ (musical ekphrasis) ein. Der aus der Literaturwissenschaft stammende Terminus bedeutet im weiteren Sinne die detaillierte Beschreibung von Personen, Gegenständen oder Ereignissen, deren Ziel es ist, ein „anschauliches Vor-Augen-Stellen“ (Port 2007: 182) der beschriebenen Sache. Im engeren Sinne wird mit der Ekphrasis die Beschreibung von Werken der bildenden Kunst gemeint. In der Auffassung von Bruhn (Bruhn 2000: 28-9) sind folgende Merkmale für die Abgrenzung der Musikekphrasis von der Programmmusik distinktiv:

The two genres belong to the same general species: both denote purely instrumental music that has its raison d’être in a definite referential, narrative, or pictorial scheme; both have variously been described as „illustrative“ or „representative“ music. […] One way of approaching the difference is to ask whose fictional reality is being represented. „Program music“ narrates or paints, suggests or represents scenes or stories  (and, by extension, evens or characters) that may or may not exist out there but enter the music from the comopsers own‘s mind. […] Musical ekphrasis, by contrast, narrates or paints a fictional reality created by an artist, other than the composer of the music: by a painter or a poet. Also, musical ekphrasis usually relates not only to the content of the poetically or pictorially conveyed fictional reality, but also to the form and style of the representation in which this content was cast in its primary medium.

Die von Bruhn erwähnte fiktive Realität, die von einem Künstler geschaffen wird, der nicht der Musikkomponist ist, bezieht sich bei der präsentierten Konzeption der alternativen Audiodeskription auf die fiktive Realität des Films.  Die Auffassung von Bruhn betont den engen Zusammenhang auf der Inhalts- und Formebene zwischen dem Ausgangsmaterial bzw. dem Ausgangswerk und dem Musikstück, und schließt sich somit an die hermeneutische Definition des Filmtextes an – Filme als übersummative und multiperspektivische Ganzheiten. Diese Prämissen bilden eine gut fundierte Grundlage für die potentielle Anwendung der Musikekphrasis in der Audiodeskription. Bruhn kontrastiert literarische Ekphrasis mit der Musikekphrasis und geht von der dreistufigen Struktur der Wirklichkeit und ihrer künstlerischen Umsetzung aus. Bei der literarischen Ekphrasis sind das:

  1. ein realer oder fiktiver Text, der als Quelle für die künstlerische Darstellung dient;
  2. eine primäre Darstellung dieses Textes in visueller Form (als Gemälde, Zeichnung, Fotografie, Schnitzerei, Skulptur usw.) oder als Film oder Tanz;
  3. eine Neudarstellung dieser ersten Darstellung in poetischer Sprache;

Die poetische Wiedergabe geht über das Aufzählen der visuellen Details und Charakteristik ihrer räumlichen Position hinaus.  Charakteristisch ist, dass sie Interpretationen oder zusätzliche Bedeutungsebenen vermittelt sowie den Blick des Betrachters auf Details und Zusammenhänge lenkt, die uns sonst entgehen würden.

Dementsprechend umfasst die dreistufige Struktur der Musikekphrasis folgende Ebenen:

  1. ein realer oder fiktiver Text, der als Quelle für die künstlerische Darstellung dient;
  2. eine primäre Darstellung dieses Textes in visueller oder verbaler Form; und
  3. eine Repräsentation dieser ersten (visuellen oder verbalen) Darstellung in musikalischer Sprache (vgl. Bruhn 2001: 6).

Erhellend für das Potenzial der musikalischen Ekphrasis in der Audiodeskription ist die lange Rezeptionsgeschichte der Programmmusik und die in dieser Geschichte dokumentierte Kunst, Bilder in Tönen einzufangen. 30 Jahre lang – in der Ära des Stummfilms - fand die Kinematographie Wege, alles Wichtige ohne Tonanwendung auszudrücken, und bildete eine hoch entwickelte Bildkultur heraus.  Im Laufe der Zeit, als man im Filmkunstwerk immer feinere Inhalte, komplizierte Konfliktnuancen mit allen psychologischen Schattierungen darstellen wollte, stellte es sich als unmöglich heraus, die Hörbarkeit der Welt zu ignorieren, und so begann die Existenz  von Geräuschen, Musik und der gesprochenen Sprache neben dem Bild. Ihre Funktionen sind in den bewegten Bildern zahlreich. Sie können Emotionen provozieren, Sympathien lenken, die Aufmerksamkeit steuern, Spannung und eine bestimmte Atmosphäre erzeugen sowie als Leitmotiv fungieren. In der im Rahmen dieses Beitrags vorgeschlagenen Konzeption der alternativen Audiodeskription zielt man darauf ab, bestimmte Elemente der Filmsprache, bestimmte Momente, die die Atmosphäre im Film mitgestalten, Emotionen der Figuren und emotionelle Momente ins musikalische Medium zu übertragen.  Diese Kompositionen können dann als zusätzliche Tonspur zum Hörfilm auf DVD oder bei den Filmen, die per Streaming zugänglich sind, zur Verfügung gestellt werden.

Das Interesse daran, komplexe visuelle Inhalte des Films in Musik zu übertragen, legt zwingend eine Klärung der möglichen Interpretationsansätze des Films nahe. Die Filmwissenschaft bietet ein ganzes Spektrum verschiedener Analysemethoden, aber, worauf  Anke-Marie Lohmeier hinweist, neben den herkömmlichen Modellen der Filmanalyse, die insbesondere quantitative Analyseverfahren entwickelt haben, gibt es vor allem semiotische Modelle der Sprach- und Literaturwissenschaft (vgl. Lohmeier 1996: XIV). Die quantitative Filmanalyse legt ein Inventar beschreibender Begriffe vor, die der Erfassung der spezifisch kinematographischen Abbildungsverfahren dienen sollen, und präsentiert Modelle der statistischen Auswertung filmischer, vor allem kameraspezifischer Daten. Sie ist von der Überzeugung geleitet, dass den verschiedenen Gestaltungsmitteln des Films substantielle Bedeutungsinhalte zuzuordnen seien, die noch vor Berücksichtigung ihrer Beziehung zum je konkreten Bildinhalt als gegeben vorauszusetzen wären. Auf dem Gebiet der Semiotik haben sich dagegen Theorien über Zeichenstrukturen und Kodesysteme mit universalem Geltungsanspruch für alle Bereiche der Kommunikation entwickelt, sie sind aber in praxi – außerhalb des engeren linguistischen Arbeitsfeldes – noch nicht wesentlich über die Konstruktion hypothetischer Modelle hinausgelangt. In Anbetracht der erwähnten Tatsachen muss man zusammen mit Lohmeier  zu dem Schluss kommen (Lohmeier 1996: XII),

dass einerseits das Methodeninventar der herkömmlichen (quantitativen) Filmanalyse nicht  für die Lösung komplexer Interpretationsprobleme ausreicht, und dass andererseits die filmsemiotischen Modelle nicht in der Lage sind, Forschungen zu fundieren, die sich weniger auf die Dekodierung filmischer Zeichen als vielmehr auf das Verstehen der mit diesen Zeichen erzeugten filmischen Texte und dessen Begründung konzentrieren. 

Von der Annahme ausgehend, dass ein filmischer Text mehr ist als die Summe seiner Zeichen und Zeichenrelationen und dass sein Verstehen Anspruch auf eine textüberschreitende Perspektive erhebt, scheint eine hermeneutische Herangehensweise an den Film sinnvoll.  Ein hermeneutisches Modell der Filminterpretation schließt die Fixierung semantischer Funktionen einzelner kinematographischer Ausdrucksmittel aus und lässt Filmtexte als Ganzheiten betrachten (vgl. Korycińska-Wegner 201).

Der oben erwähnte Vorschlag, das Bedeutungspotential der Bilder samt Elementen der Filmsprache in Musikstücke zu übersetzen, basiert auf der hermeneutischen Herangehensweise an den Film und an den Übersetzungsprozess. Im Mittelpunkt steht dabei die Definition des (Film)textes als einer übersummativen und multiperspektivischen Ganzheit (vgl. Paepcke 1986: 103-4). Dies impliziert, dass es sich bei der Übertragung der filmischen Bilder in Musik nicht darum handelt, den einzelnen visuellen Gestaltungsmitteln des Films substantielle Bedeutungsinhalte – einzelne Noten und Töne zuzuordnen oder für die einzelnen visuellen Inhalte Eins-zu-eins-Entsprechungen zu finden, sondern vielmehr darum, Bilder samt sie konstituierenden Mitteln der Filmsprache in Musikimpressionen einzufangen. Eine derartige Herangehensweise an die Übertragung der Bilder in Musik rückt die Kategorie der erzählenden Programmmusik in den Mittelpunkt.

Für einen ekphrastischen Text ist nicht eine mimetische Genauigkeit von Bedeutung, sondern das ästhetische Erlebnis, die ästhetische Spannung, die im Kontakt mit dem Kunstwerk evoziert wird. Und, wie Robert Więckowski, der Mitbegründer der Stiftung „Kulturen ohne Barrieren“[1] und Konsultant für Audiodeskription betont,  gerade in diesen Merkmalen der Ekphrasis sieht man das Potenzial für die Weiterentwicklung der Audiodeskription  (vgl. Więckowski 2014: 118). Die Stimme von Więckowski  schließt sich der aktuellen Tendenz an, in der die Audiodeskription über die Rolle eines neutralen Werkzeugs der Barrierefreiheit hinausgeht und stattdessen  eine künstlerische Antwort auf das Ausgangsmaterial wird (vgl. u.a. Cavallo 2015; Cavallo und Fryer 2018; Thompson 2018; Kleege 2018; Romero und Dangerfield 2022).

5. Projekt „Erfahrungsräume der Audiodeskription“

In den Jahren 2021-2023 wurde an der Adam-Mickiewicz-Universität in Posen im Institut für Germanische Philologie unter der Leitung der Autorin des vorliegenden Beitrags  das Projekt „Erfahrungsräume der Audiodeskription“ durchgeführt. Im Rahmen des Projekts wurden Audiodeskriptionen für die Filme aus der Sammlung des Bildungszentrums für Blinde in Owińska bei Posen bearbeitet.

Zu einem  der Filme - „Park der Orientierungssinne und unser Bildungszentrum aus der Vogelperspektive“, entstand außer dem Manuskript eine Musikekphrasis, die eine mentale Illustration der Vogelperspektive evozieren soll. Die Komposition wurde von Grzech Piotrowski geschaffen.

Grzech Piotrowski ist ein polnischer Musiker, Komponist, Musikproduzent und Schöpfer der so genannten World Orchestra – eines internationalen Musikprojekts, im Rahmen dessen unter seiner Leitung unterschiedliche Musikgattungen aus weit entfernen Ecken der Erde miteinander verbunden werden.

5.1 Projekt – Umfrage

Den Kulminationspunkt des Projekts bildete die im Dezember 2023 unter den Schülern (24 Befragte) des Bildungszentrums in Owińska durchgeführte Umfrage in Bezug auf die Rezeption der alternativen Audiodeskription – Hörfilm samt Ekphrasis, die die Vogelperspektive illustrierte.

Den Schülern des Bildungszentrums für Blinde in Owińska wurden folgende Fragen gestellt:

  1. Was hast du dir während des Hörens des präsentierten Musikstücks vorgestellt?
  2. Welche Beschreibung gibt besser den Charakter des Musikstücks wieder?
  1. Ich gehe den Gartenweg unter den Pflanzen entlang. Ich gehe an unterschiedlichen Sträuchen, Blumen vorbei.
  2. Ich gehe den Gartenweg entlang. Ich schwinge mich auf. Ich bin hoch, immer höher.
  1. Welche Wörter passen besser zum präsentierten Musikstück?
  1. Last, Begrenztheit, Erde,
  2. Leichtigkeit, offener Raum, Luft.

5.2 Die Ergebnisse des   Projekts

Die Fragen wurden von den Schülern folgendermaßen beantwortet:

  1. Was hast du dir während des Hörens des präsentierten Musikstücks vorgestellt?

Ich hatte den Eindruck, als ob ich fliegen würde….

Sommer in unserem Park

Wolken, Wolken, Wolken…

Fliegen

Ich spürte Kitzeln im Bauch

Freiheit

Leichtigkeit

Ich schwebte auf wie ein Luftballon

Beruhigung, Entspannung, Musik reguliert die Atmung

Eine gehaltvolle Musik, ruhig und doch bewegend

Ich sehe Berggipfel

Ich  schwebe im Wasser

Ruhe, Spaziergang, Natur

  1. Welche Beschreibung gibt besser den Charakter des Musikstücks wieder?
  1. Ich gehe den Gartenweg unter den Pflanzen entlang. Ich gehe an unterschiedlichen Sträuchen, Blumen vorbei.
  2. Ich gehe den Gartenweg entlang. Ich schwinge mich auf. Ich bin hoch, immer höher.

Ergebnisse der Umfrage:

  1. Welche Wörter passen besser zum präsentierten Musikstück?
  1. Last, Begrenztheit, Erde,
  2. Leichtigkeit, offener Raum, Luft;

Ergebnisse der Umfrage

Andere Antwort – „weder A noch B“

6. Fazit

Wie aus den Ergebnissen der Umfrage hervorgeht, hat die alternative Audiodeskription ein großes Potenzial. Man könnte die Meinung riskieren, dass diese zwei Varianten der Audiodeskription – die konventionelle und alternative Audiodeskription auf dem Gebiet der zugänglichen Filmkultur koexistieren könnten und dadurch das Angebot für blinde und sehbehinderte Rezipienten erweitert werden könnte.

Es handelt sich nicht darum, dass die konventionelle Audiodeskription durch die alternative Variante ersetzt wird: Aus Rücksicht auf den subjektiven Charakter der alternativen Audiodeskription wäre es angebracht, dass die blinden Rezipienten selbst entscheiden können, ob sie die zusätzliche Tonspur mit den Musikekphrasen, die die bestimmten Einzelbilder, Momente oder Protagonisten des Films illustrieren, hören oder auch nicht. Wie Robert Więckowski zu Recht bemerkt (Więckowski 2021: 78): „Jede  Audiodeskription ist eine Art Approximation, eine auf dem visuellen Werk beruhende Variation – jede, indem sie ein Werk der bildenden Kunst der sehbehinderten Person näherbringen will, beschreibt es und zugleich ein bisschen verfälscht, weil sie durch die subjektive Deutung des Übersetzers gekennzeichnet ist”. Somit kann man mit Więckowski zu dem Schluss kommen, dass die Weiterentwicklung der barrierefreien Kultur und das maximale Näherbringen des jeweiligen Werks dann erfolgen könnte, wenn man den blinden und sehbehinderten Rezipienten  mehrere Varianten der Audiodeskription zu demselben Werk zur Verfügung stellen würde (vgl. Więckowski 2021: 78).

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[1] der Originalname: Fundacja Kultury bez Barier [url=http://www.kulturabezbarier.org]http://www.kulturabezbarier.org[/url]

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"Alternative Audiodeskription Rolle der Programmmusik in der intersemiotischen Übersetzung Schlüsselwörter: Alternative Audiodeskription, Programmmusik, intersemiotsiche Übersetzung, Standrads der Audiodeskription"
inTRAlinea Special Issue: Media Accessibility for Deaf and Blind Audiences
Edited by: Carlo Eugeni & María J. Valero Gisbert
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